Restauration / Reparatur
1956er Siemens V72 Mikrofonvorverstärker
Manchmal muss man einfach Glück haben im Leben!
So ungefähr geht es unserem Kunden der vor ca. 20 Jahren einen ausrangierten Siemens V72 Mikrofonvorverstärker geschenkt bekam und der seither ungenutzt sein Dasein als Staubfänger verbrachte. Mittlerweile haben sich die alten V72 Preamps zu Sammlerstücken und einem DER Holy Grails für hochwertigste Studioaufnahmen entwickelt.
Mit anderen Worten: "Der ganz heiße Scheiß!".
Die Gebrauchtpreise für einen gut erhaltenen und einwandfrei funktionierenden V72 liegen mittlerweile bei ca. 2.000,-€.
Mehr als Grund genug den vorliegenden V72 aus dem Ruhestand zurückzuholen und wieder in den "aktiven Dienst" zu versetzen.
Historie
einer Studiolegende
Wir haben es hier mit einigen der wichtigsten Institutionen der Deutschen Studio- und Broadcastgeschichte zu tun.
Im Jahre 1928 haben sich die Firmen AEG und Siemens zusammengetan um unter dem Joint-Venture mit dem Namen "Telefunken" den ersten professionellen Vorverstärker für die damals noch junge Broadcast-Branche zu entwickeln: Den V1.
Nach mehreren Entwicklungsschritten entstand hieraus der auf einer EF12 Röhre basierende V42, der bis nach dem 2. Weltkrieg der absolute Standard bleiben sollte.
Mit der Verbreitung der FM-Technologie Ende der 1940er Jahre (die eine höhere Audioqualität erlaubte) sah man sich gezwungen auch bei der Studiotechnik nachzulegen und hochwertigere Mikrofonvorverstärker einzusetzen. So wurde in einer Kooperation des NWDR (Nord West Deutsches Radio) und dem IRT (Institut für Rundfunktechnik) in der Zeit von 1949-1952 der V72 entwickelt als der neue Studio-Standard in Punkto Vorverstärker. Die Leitung hatte hierbei Prof. Nestler, der frühere Entwicklungsleiter von AEG/Telefunken.
Aus der Perspektive unserer heutigen, schnelllebigen Welt, blickt man wehmütig auf die Zeit zurück wo in die Entwicklung eines neuen Preamps durchaus mal mehrere Jahre investiert wurden. Wir sollten hier bitte nicht in das übliche "früher war alles besser" gejammere verfallen... aber wir dürfen durchaus feststellen das Geräte, in die bei der Entwicklung viel Sorgfalt und Mühe gesteckt wurde, offensichtlich auch noch 70 Jahre später relevant, begehrt und geschätzt sind. Warum? Weil sie einfach GUT sind!
Das Ergebnis war jedenfalls der V72 Vorverstärker. Kernstücke waren die damals neuartigen EF40 Röhren im Glasgehäuse (später ersetzt durch die hochwertigere EF804 und dann EF804s) und sehr hochwertige und mehrfach verschachtelt gewickelte Übertrager.
Insgesamt wurden mehr als 25.000 V72 hergestellt. Die meisten davon landeten Ende des letzten Jahrhunderts einfach im Schrottcontainer als in Deutschland flächendeckend die Rundfunktechnik erneuert wurde. Gottseidank gingen aber auch nicht wenige in den Privatbesitz von Mitarbeitern der Rundfunkanstalten über die diese dann weiterverschenkt haben. So wie in unserem Falle.
Wer sich nochmal im Detail mit der Geschichte des V72 auseinandersetzen möchte, dem kann ich die Seite www.tab-funkenwerk.org nur wärmstens ans Herz legen.
Mechanischer Aufbau
lasst uns die Kiste zerlegen
Es ist immer wieder faszinierend wie durchdacht, aufwändig und dennoch servicefreundlich im Deutschland der 50er und 60er Jahre Geräte konstruiert wurden die quasi für die Ewigkeit gemacht sind. Hier ist zurecht der legendäre Ruf der Qualität "Made in Germany" entstanden von dem wir bis heute zehren.
Beim V72 haben es die damaligen Ingenieure um Prof. Nestler geschafft einen Netztrafo, einen symmetrischen Eingangsübertrager, einen mehrfach verschachtelten Ausgangsübertrager, ein vollwertiges 230V Netzteil sowie eine aufwändige Verstärkerschaltung mit 2 EF804s die 34dB Gain macht in einer kompakten "Danner-Kassette" mit den Maßen 47 x 134 x 265mm unterzubringen. Respekt!
Obwohl der extrem eng gepackte Aufbau an 3D-Tetris erinnert ist das V72-Modul extrem servicefreundlich konstruiert. Mit nur 2 (per Hand entfernbaren) Riffelschrauben auf der Rückseite lässt sich die komplette Kassette öffnen. Lediglich 4 weitere Schrauben halten die Frontplatte (die man nicht unbedingt entfernen muss). Im inneren kommt man ohne weiteres zerlegen an die EF804s ran, und auch das komplette Netzteil lässt sich nach Entfernen von 3 Schrauben und dem ablöten von 5 Kabeln als Modul herausnehmen.
Wir verneigen uns vor dem tollen Job den die damaligen Konstrukteure gemacht haben. Die lässt auch die (aus heutiger Sicht) recht lange Entwicklungszeit in einem anderen Licht dastehen. Es ging nicht darum möglichst schnell ein Produkt zu entwickeln.. es ging darum ein möglichst perfektes Produkt zu entwickeln.
Allerdings bedeutet dies auch, das wir 66 Jahre später bei der Restauration des V72 mit den beengten Platzverhältnissen klarkommen müssen und wir moderne Bauteile mit anderen Formfaktoren in die vorgegebenen Platzverhältnisse einpassen müssen.
"Challenge Accepted!"
Dating
also Datierung... nicht Tinder.
Auch wenn es für eine Restauration nicht wirklich wichtig ist, getrieben durch die eigene Neugier versuchen wir immer herauszufinden wann das Gerät auf unserer Werkbank gebaut wurde. Manchmal ist es ganz simpel auf dem Typenschild aufgedruckt... oft aber auch nicht. Wie auch bei unserem V72. Das Typenschild verrät uns zwar dass es aus dem Inventar des IRT stammt und dort die Inventarnummer LV72 Nr.411 hatte... mehr aber auch nicht.
Also Sherlock Holmes Modus:
1. Das Gerät wurde von Siemens gebaut. Dies erkennt man auf der Frontplatte am Siemens-Symbol und den Bauteilen im V72 die alle für Siemens gelabelt sind. Im Jahre 1954 wurden Siemens und TAB als Subunternehmer mit dem Bau der V72 beauftragt... d.h. unser Gerät stammt also aus dem Zeitraum von 1954-1963 als der V72 dann durch die Transistor-Version V72t abgelöst wurde.
2. Codes auf den Bauteilen. Siemens hat damals ein firmeninternes Datierungssystem verwendet bei dem sowohl das Werk, das Herstellungsjahr und der Herstellungsmonat kodiert wurden. Auf den Netzteil-Elkos unseres V72 finden wir die Nummer: 44L12.
Dechiffriert bedeutet diese: Werk Nr. 44 / 1955 / Dezember. Genaue Infos zu den Siemens-Codes findet ihr hier.
Fazit:
Unser V72 stammt aus der "Siemens-Ära" und wurde sehr wahrscheinlich im Jahr 1956 produziert. Das frühstmögliche Produktionsdatum wäre Dez. 1955 wenn die Elkos direkt nach Herstellung in dem V72 verbaut wurden.
Game Plan
Wie gehen wir da ran?
Ok, wir haben also einen Siemens V72 von 1956. Dieser war im Einsatz im IRT bis er hier in Rente geschickt wurde. Wir können davon ausgehen dass er im IRT gut gepflegt wurde und in funktionsfähigem Zustand ausgemustert wurde. Danach wurde er ca. 20-30 Jahre lang nicht mehr benutzt.
Viele würden sagen: Dann lasst uns das Teil einfach mal anschließen und schauen ob er noch tut. Ganz schlechte Idee!
Ja ok, die Wahrscheinlichkeit dass der V72 noch läuft ist recht hoch. Aber: Falls z.B. die Netzteilelkos während der langen Lagerung vollends ausgetrocknet sind ist das ein Spiel mit dem Feuer. Das Letzte was wir wollen ist, dass beim Einschalten das Netzteil abraucht und eventuell den Netztrafo tötet. Für diesen gibt es in einem so speziellen und eng gepackten Gerät einfach keinen adäquaten Ersatz mehr und der V72 hätte nur noch Schrottwert. Wollen wir nicht!
Also folgendes Vorgehen:
1. Alle Übertrager und Trafos auf ihre DC-Widerstände überprüfen. Dies gibt ein gutes Bild ob diese noch i.O. sind oder irgendwo Kurzschlüsse oder Unterbrechungen haben. Falls hier ein Problem auftritt macht es u.U. keinen Sinn die Restauration fortzusetzen.
2. Überprüfung und Überarbeitung des Netzteils. Tausch aller Elkos und Check des Selenium-Gleichrichters
3. Die EF804s Röhren mit unserem eTracer Curve Tracer auf Funktion, Arbeitspunkt und Kennlinienfeld überprüfen
4. Überprüfung und gegebenenfalls Tausch der Koppel-Kondensatoren
5. Überprüfung aller weiteren Bauteile auf Funktion und Werte
6. Anfertigen eines Anschlussadapters für den Multipin-Stecker des V72.
Trafos und Übertrager
haben wir im Überfluss.
Ein Reiz des V72 ist, dass er sowohl eingangsseitig als auch ausgangsseitig auf sehr hochwertigen Übertragern basiert. Dazu kommt natürlich noch der Netztrafo. Irgendwie ist in der heutigen Zeit die Kunst hochwertige Übertrager herzustellen abhanden gekommen.
Umso wichtiger der Check ob in unserem V72 noch alle Trafos und Übertrager i.O. sind.
Ein schneller aber dennoch aussagekräftiger Test ist es den DC-Widerstand aller Wicklungen zu überprüfen.
Im Prinzip können Trafos und Übertrager 2 Fehlerfälle produzieren:
1. Kurzschluss: DC-Widerstand ist "hart" 0Ohm
2. Unterbrechung: DC-Widerstand ist "unendlich"
In unserem Fall konnten wir bei allen Wicklungen noch realistische DC-Widerstände messen. Somit sind die Trafos und Übertrager noch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit i.O. Sehr gut!
Ein defekter Trafo oder Übertrager würde den V72 quasi direkt in die Abteilung "Schrott" versetzen da heutzutage einfach keine Ersatztypen mehr existieren die in das sehr eng gepackte Design des V72 passen.
Das Netzteil
Das Schwierigste zuerst...
Warum das Schwierigste?
Wir möchten doch lediglich ein paar 66 Jahre alte Elkos tauschen...
Zuerst mal: Warum müssen diese Elkos getauscht werden?
Nun, Elkos haben eine Lebensdauer von ca. 15-20 Jahren. Je nach Benutzung und Temperatur sind sie danach "durch" und neigen dazu nicht mehr ausreichend zu filtern und "leaky" zu werden. Mit "leaky" meine ich hier noch nicht dass sie tatsächlich anfangen ihre Innereien auszuspucken (das tun sie erst wenn sie wirklich komplett "am Ende" sind). Mit "leaky" meine ich dass die Elkos anfangen Gleichspannung durchzulassen.
Obwohl die Elkos in unserem V72 sowohl optisch, als auch bezüglich Kapazitäts- und ESR Messwerten noch i.O. erscheinen, lässt sich feststellen dass die DC-Resistance bereits auf einen Wert von ca. 50MOhm abgesunken ist (der sollte eigentlich "unendlich" sein). Das könnt ihr übrigens nicht mit nem gängigen Multimeter messen... 4-Draht Messung ist hier das Stichwort.
Lange Rede, kurzer Sinn, die Elkos machen zwar noch nen guten Eindruck sind aber definitiv schon auf dem Weg dazu ein Problem zu werden.
Ich weiß, es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber wann Bauteile getauscht werden sollten und wann nicht. Manche schwören darauf, dass man alte Elkos mit "Reforming" wieder zu neuem Leben erwecken kann... Ich persönlich halte davon nichts. Gar nichts!
Netzteilelkos sind sicherheitskritische Bauteile in einem Verstärker. Wenn sie ihr Leben aushauchen können sie andere Teile wie z.B. den Netztrafo mit in den Tod reißen. Dieser ist in einem V72 quasi "nicht ersetzbar". Dieses Risiko möchten wir nicht eingehen.
Lasst es uns mal mit nem Oldtimer-Auto vergleichen:
Wir haben nen 66 Jahre alten Oldtimer und sagen: "Die originalen Reifen sind noch gut. Sie haben noch genügend Profil und verlieren keine Luft!". Und dann fährt man über das erste Schlagloch und wundert sich warum der Reifen platzt. Tja, weil der Gummi nach 66 Jahren einfach spröde geworden ist...
Aber ich schweife ab...
Ich wollte ja eigentlich erklären warum der Tausch der Netzteilelkos in nem V72 kein "Easy-Job" ist. Nun, der V72 in der "Danner-Kassette" ist ein Gerät welches intern extrem eng gepackt ist. Die Designer haben sich zwar sehr viele Gedanken über servicefreundliche Demontage gemacht, aber am Ende des Tages basiert alles darauf die Original-Bauteile mit den entsprechenden Abmessungen zu haben. 3D-Tetris halt...
Neuaufbau des Netzteils I
herausforderungen.
So, nun haben wir das kleine Häufchen Elend also vor uns liegen.
Mehrere Herausforderungen:
1. Die alten Elkos haben einen speziellen mechanischen Aufbau bei dem der Plus-Anschluss durch einen Schlitz in einer Pertinax-Platte gesteckt und verdreht wird. Dies ist gleichzeitig die mechanische Befestigung. Elkos in dieser Bauform gibt es heute nicht mehr. Wirklich nicht! Man könnte natürlich einfach moderne radiale Kondensatoren verwenden... die Beinchen durch die Löcher stecken... diese irgendwie miteinander verzwirbeln... und großzügig versuchen diese mit Silikon halbwegs mechanisch zu sichern. "Schön" wird das aber nicht... und mechanisch ist es auch eine mehr als wackelige Angelegenheit.
2. Die Positionen der Elkos (speziell derjenige neben dem langen, schwarzen Selenium-Gleichrichter) sind so designt, dass sie beim Zusammenbau exakt mit den Dimensionen von anderen Bauteile korrelieren und sich in unserem 3D-Tetris perfekt ineinander fügen. Wenn man dies nicht beachtet erlebt man beim Zusammenbau ne böse Überraschung.
3. Der Selenium-Gleichrichter. Damals der "ganz heiße Scheiß" (Halbleiterdioden gabs ja noch nicht). Ein riesiges Teil... optisch ziemlich charakterstark... und wurde dann auch gleich mal als "mechanische Führung" für den Einbau des Netzteilmoduls verwendet. Und hatte ich schon erwähnt dass Selenium heutzutage als "Giftig" eingestuft wird?
Neuaufbau des Netzteils II
let's do it...
Ok, um es an dieser Stelle etwas abzukürzen:
Es gibt genau 2 Möglichkeiten um das alte Netzteil des V72 mit modernen Komponenten neu aufzubauen damit es mechanisch passt. Bei Beiden machen wir uns die Tatsache zu Nutze, dass nach entfernen der alten Elkos die vorhandenen Löcher in der Pertinax-Platte perfekt passen um mit M3 Schrauben neue Elemente mechanisch zuverlässig zu sichern.
1. Wir schneiden uns eine Lochrasterplatine zurecht die mit den vorhandenen Löchern und Distanzbolzen sicher mit der Pertinaxplatte verbunden wird und bestücken diese mit modernen radialen Elkos. Technisch eine prima Lösung... optisch aber eher unschön, da der Mix aus alter Pertinax-Platte, moderner Lochrasterplatine und moderne radiale Elkos schon ein wenig nach Frankenstein aussieht.
2. Wir verschrauben mehrere stehende Pertinax-Lötleisten mit der Basisplatte und verwenden axiale Elkos. Technisch auch eine sehr gute Lösung und optisch deutlich näher am Style der 50er Jahre. Letzteres war letztendlich der Grund warum wir uns hierfür entschieden haben. Trotzdem muss gesagt werden: Wenn auch noch die restlichen 24.999 V72 zu uns zum Service kommen, würden wir vermutlich eine Platine designen welche mit modernen, radialen Elkos bestückt wird und als Drop-In Replacement in das Netzteilmodul des V72 eingebaut werden kann.
Und dann haben wir noch:
1. Die Droping-Resistors zwischen den Elko- Filterstufen.
Diese sind auch nach 66 Jahren noch absolut "Spot-On" und in Ordnung. Vermutlich wurden diese nicht von Siemens hergestellt, sondern nur für Siemens gelabelt. Als Hersteller vermute ich Rosenthal, und Rosenthal-Widerstände gehören auch nach heutigen Maßstäben immer noch zum Besten was man bekommen kann. Diese dürfen also weiterhin in dem V72 wohnen.
2. Der Selenium-Gleichrichter.
Es mal wieder eine Gewissensfrage: Drin lassen oder nicht? Maximale Originalität oder sichere Funktion? Viele tauschen Selenium-Elemente in alten Amps prinzipiell aus aufgrund des Gesundheitsaspektes. Dem schließe ich mich nicht immer an. Im vorliegenden Fall ist der Selenium-Gleichrichter in einer geschlossenen Metalkassette verbaut und die Wahrscheinlichkeit dass dieses austritt und dann auch noch jemand an diesem schnüffelt oder herumschleckt ist verschwindend gering.
Obwohl der Selenium-Gleichrichter in unserem V72 noch einwandfrei funktioniert werden wir ihn stilllegen (aber im Gehäuse belassen aufgrund seiner mechanischen Funktion) und durch einen modernen Brückengleichrichter ersetzen. Warum? Erstens ist dieser nur im Netzteil und hat keine klangliche Funktion. Zweitens erhält man durch eine moderne Gleichrichterbrücke eine ca. 10V höhere interne Spannung welche sich positiv auf den Headroom auswirkt. Und Drittens traue ich einem 66 Jahre alten Selenium-Gleichrichter einfach nicht so richtig über den Weg... ;-)
Netzsicherung
Du kleiner Bastard Du!
Ok, das Netzteil ist restauriert... so rein aus Routine messen wir kurz ob auch der Netztrafo Verbindung zum Netzteil hat. Und siehe da: Nein! Sicherung gecheckt... ist i.O. ... what the f...?!?!
Es hat sich gezeigt dass der Sicherungshalter (und nur dieser) im Laufe der Jahre die dickste Oxidschicht gebildet hat die man sich vorstellen kann. Eine eingelegte Sicherung fand einfach keinen Kontakt mehr, bzw. nur sehr wackeligen Kontakt... und auch nur in bestimmten Stellungen. Und nein, auch "almighty" WD40 hat der Oxidschicht unseres Sicherungshalters nur ein müdes Lächeln abgerungen.
Wackelkontakt bei Sicherungen ist nicht gut!
Man stelle sich nur vor: "Joe Bonamassa spielt gerade das Gitarrensolo seins Lebens ein und mitten in der Aufnahme geht der V72 aus durch den das Signal des Mikros seines Gitarrenamps geht. Der Toningenieur sagt dann auch noch: "Komisch, der Preamp ist einfach ausgegangen... dabei wurde er erst vor kurzem vom Tube WorkShop überholt." Gaaaaanz doof!
Was tut man in so einem Fall also?
Man holt sich nen Kaffee, wickelt feines Schleifpapier um das Ende eines passenden Schraubenziehers... und dann schleift man mit Engelsgeduld solange am Sicherungshalter rum bis alle Kontakte wieder blank sind. Wir möchten ja nicht eine Oxidschicht zwischen uns und Joe Bonamassa kommen lassen... ;-)
Röhren
wie geht es Euch?
66 Jahre alte Röhren? Die müssen getauscht werden!
Nope...
Ich hasse es wenn alte Bauteile "auf Verdacht" getauscht werden. Speziell bei Röhren landen hier viele alte Schätzchen im Mülleimer nur weil jemand vermutet dass diese schlecht sein müssen. Aus diesem Grund haben wir uns vor einiger Zeit ein aufwändiges Röhrenprüfsystem angeschafft welches Röhren nicht nur in einem bestimmten Arbeitspunkt vermisst, sondern das komplette Kennlinienfeld ermitteln kann.
Und was soll ich sagen:
Die alten Telefunken EF804s in unserem V72 zeigen sich auch noch nach 66 Jahren Jahren in einem Top-Zustand und dürfen weiter in dem Modul wohnen. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Qualität der Röhren die damals von Telefunken, Valvo und anderen produziert wurden.
Und ach ja, falls jemand von Euch diese "Bea02" kennt... bitte Kontaktdaten an mich weitergeben... ;-)
Röhrensockel
getting clean
Wenn wir uns gerade schon mit den Röhren beschäftigen, dann sind auch gleich die Röhrensockel dran. Diesen tut nach so langer Zeit auf jeden Fall eine gründliche Reinigung gut da sich mit der Zeit immer irgendwelche Niederschläge auf den Kontakten festsetzen und auch Oxidation ein Thema ist.
Nein, wir verwenden kein WD40!
Manche behaupten ja mit WD40 und Gaffa kann man 90% der Probleme dieser Welt lösen. Möchte ich gar nicht widersprechen. Verschmutzte Röhrensockel gehören aber definitiv zu den restlichen 10%. Das Zeug ist toll für alle korrodierten Metalloberflächen um diese aufzuarbeiten. Auf Kontakten hinterlässt es aber einen Schmierfilm der neuen Schmutz wie ein Magnet anzieht.
Und nein, wir verwenden auch kein DeoxIT D5 oder F5.
Beide sind in kleiner Dosis super für Potis und Kontakte von Schaltern. Allerdings hinterlässt auch DeoxIT einen leitenden Schmierfilm den wir in Röhrensockeln nicht haben möchten.
Was nehmen wir also für Röhrensockel?
Reines Isopropanol und Interdentalbürsten sind Eure Freunde! Man platziert ein Papiertuch unter den Röhrensockeln und flutet diese dann von oben großzügig mit Isopropanol. Nach kurzer Einwirkzeit schrubbt man dann die Kontakte für die Röhrenpins mit Interdentalbürsten.
Man wundert sich wie viel Schmutz und Belag man damit auch in einem V72 (wo die Röhren ja in einer geschlossenen Metallkassette sind) zum Vorschein bringt und anschließend auf dem Papiertuch findet. Aber hey, nach 66 Jahren ist es auch mal Zeit für eine professionelle Zahnreinigung.
Anschließend noch mit Druckluft auspusten und das restliche Isopropanol verdunsten lassen (was es rückstandslos tut). Wir sind CLEAN!
Koppelkondensatoren
Hero or Zero?
Erneut stehen wir vor der Gewissensfrage: "Maximale Authentizität oder maximale Funktionalität?"
Der V72 macht es uns hier nicht einfach. Die 4 Koppelkondensatoren die man in dem Gerät findet sind mechanisch schon "charakterstarke" Typen die mit ihrer mechanischen Größe (teilweise in speziellen Schellen montiert) auch ein Stück weit die Optik des Geräts prägen. Rein messtechnisch kann man ihnen auch attestieren, dass sie noch über gute Kapazitäts- und ESR-Werte verfügen.
Wäre da nur nicht der Gleichstromwiderstand der bereits in einen messbaren, zweistelligen MegOhm-Bereich gesunken ist. Die Kondensatoren würden zwar auch hiermit noch gut funktionieren, aber es ist einfach ein klares Anzeichen dafür dass sie sich bereits auf die Reise begeben haben ein Widerstand zu werden und Gleichspannung durchzulassen.
Da wir den V72 nicht nur für ein paar Jahre wieder funktionsfähig machen möchten, sondern diesen tatsächlich wieder in einen technisch "neuwertigen" Zustand versetzen möchten haben wir uns schweren Herzens entschlossen die vorhandenen Koppelkondensatoren zu tauschen.
Zum Einsatz kamen hier 2 unserer TWS Cream Caps (Polyester in Oil) die über einen sehr ebenen und gleichmäßigen Klang verfügen und auf den originalen Produktionsmaschinen von Philips aus den 60ern hergestellt werden. Hiermit sind wir also auch ziemlich "Period Correct". Für die größeren Koppelkondensatoren im uF-Bereich kamen hochwertige MKP-Typen von Solen Fast aus Frankreich zum Einsatz. Diese gehören mit zum Besten was man heutzutage kaufen kann.
Wir hätten es geliebt die alten Kondensatoren nur aus der Schaltung zu nehmen aber aus optischen Gründen im Gerät zu belassen. Der enge Formfaktor lässt dies aber leider nicht zu, zumal die mechanische Position der Kondensatoren teilweise entscheidend darüber ist ob der V72 "stabil" läuft oder dazu neigt zu oszillieren. Hier war also Fingerspitzengefühl gefragt.
Viele Techniker unterschätzen wie wichtig in alten Röhrenverstärkern das Layout und die Position der Bauteile ist um Nebengeräusche und Oszillationen zu bändigen. Oft werden hier alte Geräte einfach irgendwie wieder zusammengeflickt und wenn dann etwas schwingt werden halt noch so lange Snubber-Caps eingelötet bis alles stabil ist, auch wenn man hiermit einiges an Klang opfert.
In vielen Fällen ist dies mit der richtigen Positionierung der Bauteile und dem richtigen verlegen der Kabel nicht notwendig. Leider bedeutet dies auch einiges an "try and error" und nimmt Zeit in Anspruch. Aber es lohnt sich am Ende!
Check der restlichen Bauteile
Easy Job!
Trafos gecheckt... Netzteil überholt... Röhren geprüft... Koppelkondensatoren erneuert.
Bleibt eigentlich nur noch eine Handvoll Widerstände zu checken. Wie zuvor schon geschrieben vermute ich sehr stark dass es sich hier um für Siemens gelabelte Widerstände von Rosenthal in höchster Qualität handelt. Und wie schon vermutet hat sich auch beim Durchmessen aller Widerstände gezeigt, dass diese noch in absoluter Topform sind. Nice one!
Anschlussadapter
let's get connected
In einem Gitarrenverstärker hätten wir diesen schon nach der Überholung des Netzteils angefertigt um den Amp erstmals ohne Röhren "hochzufahren". Da der V72 aber über ein solch verschachteltes Design verfügt haben wir hier zuerst alle notwendigen Arbeiten durchgeführt und denken erst jetzt über die erste Inbetriebnahmen nach.
Wir haben das große Glück, dass mit unserem V72 auch direkt der passende Multipinstecker zum Anschluss kam (weil einfach die Kabel abgeknipst wurden und der Stecker am Modul verblieb). Somit konnten wir mit überschaubarem Aufwand einen entsprechenden Kabelbaum anfertigen.
Ansonsten hätten wir mühevoll nach dem entsprechenden Stecker suchen müssen oder einen (hochwertigen aber teuren) Kabelbaum von akzent-audio nachbestellen und unserem Kunden berechnen müssen.
Generell kann man sagen dass ein großer Faktor für die Beliebtheit des V72 ist, dass dieser direkt an gängigen 230V betrieben wird (integriertes Netzteil) und die Pinbelegung des Anschlussteckers es zulässt diesen entweder für symmetrische Signale (Mikrofonvorverstärker) als auch für unsymmetrische Signale (Line-Verstärker) zu konfigurieren.
Wir haben uns für die symmetrische Variante als Mikrofonvorverstärker entschieden und entsprechend XLR Eingangs- und Ausgangsbuchsen angebracht. Die unterschiedlichen Anschlussvarianten würden hier den Rahmen sprengen, ich poste aber einen verifizierten Schaltplan dem man entnehmen kann welche anderen Optionen möglich sind.
Lediglich auf eines möchten wir hinweisen:
Da die V72s in einem professionellen Umfeld betrieben wurden ging man davon aus dass die Techniker die die Module installieren sehr genau wissen was Ihre Anwendung verlangt und die Anschlüsse am Multipinstecker entsprechend konfigurieren.
So sind z.B. die Erdung des Metallgehäuses und die Schaltungsmasse voneinander getrennt. Dies kann ein Vorteil sein um Masseschleifen mit dem nachfolgenden Gerät zu unterbinden. In diesem Falle ist es aber zwingend notwendig dass vom Nachfolgenden Gerät ein definiertes Massepotential mit der Schaltungsmasse des V72 verbunden wird (in unserem Fall über den Ground-Pin des XLR-Ausgangs am Kabelbaum).
Ist dies nicht der Fall, hat die Schaltung im V72 kein definiertes Massepotential (floating) und neigt dazu bei nicht belegtem Ausgang anzufangen zu oszillieren. Um dies zu unterbinden haben wir am Multipinstecker die Schaltungsmasse geerdet (so wie das eigentlich üblich ist). Sollte dies zu Brummschleifen in Kombination mit dem Nachfolgenden Gerät führen kann diese Massebrücke entfernt werden. Allerdings muss man dann Sorge tragen dass der V72 sein Massepotential vom Nachfolgenden Gerät erhält. Daumenregel: Falls Ihr nicht versteht von was ich hier rede, dann solltet Ihr die Verkabelung des V72 nicht selbst vornehmen... ;-)
Inbetriebnahme
V72 comes to live
So, endlich ist der Zeitpunkt gekommen den V72 wieder in Betrieb zu nehmen.
Natürlich wird dieser nicht einfach hart in die Steckdose gesteckt, sondern langsam am Regeltrenntrafo hochgefahren.
Hier zeigen sich dann direkt auch "Problemstellen":
Ab einer Netzspannung von 180V neigt der V72 dazu in eine massive 32KHz Schwingung am Ausgang zu verfallen. Hierfür finden sich 2 Gründe:
1. Wir haben ein offenes Gehäuse das nicht geerdet ist, da am Trenntrafo angeschlossen...
2. Die Position der Koppelkondensatoren in der Schaltung beeinflusst massiv die Stabilität der Schaltung
Nach einigem "Vor- und Zurück" bezüglich der Platzierung der Koppelkondensatoren und des generellen Layouts haben wir das Optimum gefunden welches sogar elektrisch stabiler ist wie der ursprüngliche Aufbau mit den Koppelkondensatoren in den dafür vorgesehenen Halteklammern.
Den "Deep-Dive" hierzu ersparen wir Euch...
Messwerte
und Stresstests
Juchhu, endlich sind wir an dem Punkt wo der V72 wieder zuverlässig und stabil läuft und wir anfangen können zu messen was er so "drauf" hat.
Was würden wir jetzt für ein professionelles Audiotestsystem wie einen Audio Precision geben. Leider sind diese extrem teuer, stehen aber sehr weit oben auf der "Habenwollenliste" von uns. Falls jemand eines rumstehen hat und loswerden möchte, bitte bei uns melden.
Bis dahin machen wir das also oldschool mit Signalgenerator, Oszi und Excelliste.
Wir füttern in den Eingang des V72 ein -20dBV Sinussignal (100mVpp) und haben am Ausgang ein Oszi an einer Dummy-Load von 10kOhm. Und dann sweepen wir geduldig per Hand von 20Hz bis 20KHz und notieren uns die Werte.
Ergebnis:
-
Im Frequenzbereich von 50Hz - 20.000KHz bewegen wir uns innerhalb einer Toleranz von +/-1dB. Das ist für ein 66 Jahre altes Gerät sehr gut!
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Das Datenblatt sagt der V72 hat eine fixe Verstärkung von 34dB. Die gemessene Verstärkung unseres V72 über den Frequenzbereich liegt im Mittelwert bei 34,4dB. Perfekt!
Schöner Wohnen
WD40 und Glasreiniger sind unsere Freunde
Nachdem das innere des V72 wieder TipTop ist bauen wir die "Danner-Kassette" nun wieder zusammen. Im Laufe der Zeit hat sich auf der Aussenseite ein wenig Flugrost gebildet. Hier hat nun endlich WD40 seinen großen Auftritt! Bei der Behandlung alter Metalloberflächen wirkt das Zeug wunder in Punkto Reinigung und hinterlässt zudem anschließend einen dünnen Film der vor weiterer Korrosion schützt.
Bei der Reinigung des Frontpanels mit Glasreiniger zeigt sich, dass sich hier über die Jahre doch eine ordentliche Schicht an Ablagerungen gebildet hat die man nur mit Geduld und mehreren Reinigungszyklen herunterkriegt. Unsere Vermutung: In den 60er, 70ern und 80ern war es durchaus üblich am Arbeitsplatz zu rauchen, und damals wurde viel geraucht... wohl auch im IRT. Jedenfalls sehen die Ablagerungen (die wir Stück für Stück wegputzen) sehr nach einer ordentlichen Nikotinschicht aus.
Ja, es gibt auch aggressivere Reinigungsmittel mit denen sowas vielleicht schneller geht. Aber wenn man seinem Kunden nicht erklären möchte dass das neue Wunder-Reinigungsmittel leider auch die Lackierung seines Gerätes mit abgelöst hat bleibt man lieber bei sehr milden Reinigern wie Sidolin o.ä.
Sound des V72
ein paar Gedanken
Der V72 hat sich im Lauf der Jahre zu einer Ikone entwickelt der ein besonders begehrenswerter Klang nachgesagt wird.
Warum eigentlich? Der Preamp wurde eigentlich dafür entwickelt möglichst neutral und linear zu sein. Eigentlich sollte er keinen großen "Eigenklang" haben.
Man muss sich vor Augen halten, dass der V72 eine sehr hohe, fixe Verstärkung von 34dB hat. Hiermit erreicht man mit gängigen Mikrofonen beim Close-Miking sehr schnell den Punkt wo der V72 nicht mehr linear ist, sondern anfängt asymmetrisch zu clippen.
Leichtes asymmetrisches clipping (speziell mit Röhren) wird von vielen als eine extrem gut klingende Klangfärbung wahrgenommen.
Natürlich regelt man am Input des nachfolgenden Gerätes den hohen Output-Level des V72 wieder runter, aber bis dahin hat dieser dem Audiosignal schon unwiederbringlich seinen Stempel aufgedrückt. Ob linear oder nicht, jedenfalls scheint es sehr geil zu klingen!
Aber das ist nur meine Theorie.
Prof. Nestler hätte hierzu sicherlich eine andere Meinung... ;-)